- Die Deutschen zögern: Skepsis, Perfektionismus und hierarchische Strukturen bremsen Digitalisierungsprojekte.
- Große Potenziale zu erschließen: Allein im unabhängigen Einzelhandel sehen mehr als 60 Prozent der Unternehmen noch keinen Bedarf oder scheuen die Digitalisierung aus Überforderung.
- Expert:innen fordern: Mehr agile Pilotprojekte, Abbau von prozessualen Hürden und einen menschlicheren Ansatz für die digitale Transformation.
Unter dem Motto "Hat Deutschland eine Digital-Allergie?" diskutierten die Teilnehmenden Hürden und Chancen für die deutsche Digitalisierung (v.l.n.r. Barbara Engels - IW Köln, Frederik Reim - Country Lead Germany von Faire, Julia Wadehn - Co-Founder von Novo, Erik Muttersbach - Co-Founder und Managing Director von Forto, Monika Stahl - Head of Marketing and Communications von Conceptboard)
Berlin, April 2023 – Digitale Chancen müssen in Deutschland sichtbarer und einfacher zugänglich gemacht werden – das ist das Ergebnis, zu dem Digitalisierungsfachleute auf dem Roundtable-Event der Online-Großhandelsplattform Faire, Mitte März in Berlin gekommen sind. Das Event stand unter dem Motto: "Hat Deutschland eine Digitalallergie?". Alle Teilnehmenden stammen aus stark analog geprägten Branchen wie dem unabhängigen Einzelhandel, der Logistik, dem behördlichen Umfeld oder dem Baugewerbe. In einem Impulsvortrag gab Barbara Engels, Senior Economist des Instituts der deutschen Wirtschaft, einen Überblick zur aktuellen Digitalisierungs-Lage der Nation. Der von dem Wirtschaftsforschungsinstitut erhobene Digitalisierungsindex zeigt ganz klar, dass nach dem Corona-Digitalisierungsschub die Digitalisierung in Deutschland nun stagniert.
Zwischen den Branchen gibt es große Unterschiede. Während die Informations- und Kommunikationstechnologie und der Fahrzeugbau das Ranking anführen, weil letzterer beispielsweise von einer starken digitalen Forschung profitiert, landen Verkehr und Logistik nur auf Platz sieben. Der Handel bildet mit Platz neun und das sonstige produzierende Gewerbe, zu dem auch die Bauwirtschaft gehört, mit Platz zehn das Schlusslicht. Diese Branchen sind stark analog geprägt. Die Gründe dafür sind vielschichtig.
Deutsche in der Digitalisierungsstarre
Neuen digitalen Wegen stehen die Deutschen oft skeptisch gegenüber. Eine von Faire beauftragte Studie des IFH Köln ergab, dass über 60 Prozent der befragten Einzelhändler:innen keinen Digitalisierungsbedarf sehen oder die Digitalisierung aus Überforderung scheuen. „Zunächst ist die Unbekanntheit der digitalen Möglichkeiten ein Problem", sagt Frederik Reim, Country Lead Germany bei Faire. „In Gesprächen mit Einzelhändler:innen haben wir jedoch erfahren, dass sie sich auch bei genug Wissen schwer tun, aus dem traditionellen Habitus auszubrechen. Das liegt an einer Skepsis gegenüber der Einfachheit digitaler Angebote. Gerade im unabhängigen Einzelhandel gibt es viele Geschäftsrisiken und aufwendige Prozesse, die wir beispielsweise durch kostenlose Rücksendungen, ein 60-Tage-Nettozahlungsziel oder Unterstützung bei Zöllen mildern. Dass es auf einmal so einfach gehen soll, verunsichert Einzelhändler:innen oft.“
„Wir erfahren ebenfalls sehr viele Hemmnisse aus einer Unbekanntheit, einer Unerfahrenheit mit dem digitalen Weg heraus", bestätigt Julia Wadehn, Co-Günderin von Novo. Mit ihrem Unternehmen unterstützt sie Eigentümer:innen bei der energetischen Gebäudesanierung durch die Möglichkeit, Daten selbst zu erfassen und so einfach und schnell einen Sanierungsplan zu erhalten und Förderanträge stellen zu können. „Viele unserer Kund:innen suchen, nachdem ihnen unser Angebot vorliegt, doch noch den persönlichen Kontakt über das Telefon. Zum einen, weil sie es im Umgang mit der Baubranche so gewohnt sind und zum anderen, weil sie nicht glauben können, wie einfach der Prozess auch digital funktionieren kann. Wir hören dann oft "Reicht euch das wirklich? Könnt ihr dann wirklich schon was sagen zu meinem Haus?" Und ja, das können wir wirklich.“
Im Land der Hierarchien
Dass die generelle Bereitschaft zur Digitalisierung vorhanden ist, auch wenn die zwingende Notwendigkeit aktuell noch nicht so deutlich gesehen wird, zeigt die Studie des IFH Köln und Faire jedoch sehr deutlich. 64 Prozent der befragten Einzelhändler:innen gaben an, offen für digitale Beschaffungsmöglichkeiten zu sein. Aber auch wenn der Wille da ist, kann der Weg zur Implementierung in Unternehmen noch weit sein, besonders in größeren Organisationen. Die deutsche Wirtschaft ist stark hierarchisch geprägt, meint Julia Wadehn von Novo. „Wir haben oft eine klare Ordnung, in der obere Hierarchieebenen die Verantwortung für Entscheidungen tragen und dementsprechend auch das ganze Risiko. Das heißt, wenn von unten ein Vorschlag kommt, dann muss es jemanden geben, der bereit ist, das Risiko einzugehen. Das ist ein Ansatzpunkt für die eigentliche Lösung. Wir müssen dieses Risiko entmystifizieren: Worin besteht denn überhaupt noch ein Risiko? Gibt es da eins? Und wenn ja, wie groß ist das wirklich? Am Ende stellt sich häufig heraus, dass es total überschaubar ist oder überschaubar gemacht werden kann.“
Diese Hierarchien und die verbundenen Prozesse bremsen die Digitalisierung in Deutschland. Auch wenn Mitarbeitende Verantwortung für Veränderung übernehmen wollen, stehen sie vor der Herausforderung festgelegter Strukturen. „Die Prozesse sind ein Problem. Sachbearbeiter X findet Tool Y gut und muss, um es nur einmal auszuprobieren, von Pontius zu Pilatus laufen, um für einen Testlauf eine Freigabe zu erhalten. Wir stellen dann oft fest, dass schlussendlich niemand die Entscheidung treffen will oder kann", erläutert Monika Stahl, Head of Marketing and Communications bei Conceptboard, Anbieter eines DSGVO-konformen Online Whiteboards für die digitale Zusammenarbeit. „Und dass man dann irgendwann müde wird, weil man sich abgemüht hat, das kann ich schon nachvollziehen.“
Einfach mal machen
Wie kann es stattdessen ablaufen? Die Teilnehmenden wurden von Barbara Engels nach konkreten Lösungsansätzen für die Zukunft gefragt. Bei einem Punkt sind sich alle einig. "Einfach mal machen!" würde uns in Deutschland wirklich gut tun. Im Bereich Digitalisierung bringt es uns nicht voran, auf dem Weg in planerischer Schönheit zu sterben. „Was total selten passiert in Deutschland ist, dass man Dinge pilotiert, also mal im Kleinen testet," meint Julia Wadehn. „Da ist mein Risiko schon wieder deutlich überschaubarer, als wenn ich gleich den kompletten Roll-out eines neuen Tools mache. Und das ist ein Ansatz, der fehlt auf breiter Front noch in Deutschland." Das Potenzial ist besonders groß für Early Adopters. Faire hat in Deutschland in nur 12 Monaten einen achtstelligen Umsatz erzielt und seit 2021 wurden fast eine halbe Million deutscher Produkte auf der Plattform verkauft. „Es gab einen riesigen Run auf deutsche Produkte, sobald sie über die Plattform für Händler:innen einfach verfügbar waren", sagt Frederik Reim von Faire. „Unternehmer:innen, die neue digitale Prozesse als erste umsetzen, haben unserer Erfahrung nach große Chancen, erfolgreich zu sein.“
Mehr Sicherheit kann auch ein Blick über die Landesgrenze bieten, resümiert die Expertenrunde weiter. Das gute alte Testimonial, das man manchmal braucht, um sich sicher zu fühlen, um etwas Neues anzunehmen, sei direkt bei den Nachbarn zu sehen. „Wir gucken auch ganz stark in Richtung Dänemark oder generell die Nordics in Bezug auf Energieeffizienztechnologien im Gebäudebestand," so Julia Wadehn weiter. Frederik Reim bestätigt: „Auch im unabhängigen Einzelhandel sehen wir große Unterschiede im internationalen Vergleich. Während in den USA die Digitalaffinität sehr hoch ist, sind Europäer:innen zurückhaltender. Besonders in Deutschland, Frankreich und Südeuropa.“
Vertraute Elemente in neuer Umgebung
Wird ein neuer digitaler Prozess dann eingeführt, sei der Faktor Mensch der wichtigste, so die Panelisten. „Es ist kontraproduktiv, den Mitarbeitenden ein Framework überzustülpen, sondern man muss sie heranführen, gerade in der Zielgruppe 55 Plus, mit der wir es im öffentlichen Sektor oft zu tun haben. Hier werden bis zum Jahr 2030 ein Drittel der Mitarbeitenden in Rente gehen", erläuterte Monika Stahl. Für Digitalisierungs-Dienstleister sei es daher wichtig, besonders individuelle Lösungen für die jeweiligen Kund:innen zu finden, den Nutzen für den Arbeitsalltag der einzelnen Mitarbeitenden zu verdeutlichen und der Belegschaft eine hohe Benutzerfreundlichkeit zu bieten. Ein Online-Whiteboard beispielsweise, sei eine bekannte Oberfläche aus dem physischen Meetingraum. Die Anwender:innen verstünden gleich, dass hier digitale Haftnotizen oder Skizzen angebracht werden können.
„Mit Faire verfolgen wir einen ähnlichen Ansatz," ergänzt Frederik Reim. „Der Einkauf auf unserer Online-Großhandelsplattform ist in der Benutzung wie das private Online-Shopping. Wir reproduzieren einfach einen bereits erlernten Prozess mit dem Ergebnis, dass Einzelhändler:innen die Plattform weiter nutzen, wenn sie sie erstmal ausprobiert haben." Dass eine intuitive, benutzerfreundliche Oberfläche der richtige Weg ist, beweist das Wachstum von Faire. Die Plattform kann für den deutschen Markt ein dreifaches Wachstum im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen.
Lasst uns nicht von Digitalisierung sprechen
Einig sind sich die Expert:innen auch, dass allein der Begriff "Digitalisierung" häufig zu komplex und daher abschreckend sein kann. Unter dem Begriff "Digitalisierung" wird meist weniger die Vielzahl der einfach anzuwendenden Lösungen als das große Ganze mit all seiner Komplexität verstanden. „Ich glaube ehrlicherweise, es ist ein Hemmnis, sich als die digitale Version von etwas zu verkaufen." sagt Erik Muttersbach, Co-Founder und Managing Director von Forto, einem führenden Anbieter von digitalen Speditionslösungen. „Und ich glaube auch, dass das digitale Ökosystem natürlich auch abschreckend wirken kann. Ein Stück weit exklusiv ist." In der Digitalwirtschaft wird viel mit Fachbegriffen, teilweise aber auch einfach mit Buzzwords gearbeitet. Für Menschen, die bisher wenig digitale Berührungspunkte in ihrem Arbeitsalltag hatten, ist das eine unnötige Hürde. „Man sollte das Thema menschlicher machen," fährt Erik Muttersbach fort. „Ich versuche jetzt Forto nicht mehr als "digitalen Spieler" darzustellen. Wir stellen uns vor als ein Spediteur, der Technologie nutzt, um einen deutlich besseren Service anzubieten. Mit unserer Lösung kannst du schneller Entscheidungen treffen, früher nach Hause gehen, mehr Zeit mit den Kindern verbringen. Und so weiter.“
Überschätzte Hürden und unterschätzte Chancen
Barbara Engels fasst zusammen: „In der Digitalisierung müssen wir die Menschen mehr in den Mittelpunkt stellen. Wir müssen sie da abholen, wo sie jetzt sind. Ihnen die konkreten Vorteile für ihren Alltag verdeutlichen und ihnen die Angst vor dem Unbekannten nehmen – ohne überflüssige Buzzwords. Wir müssen sie mit intuitiven Anwendungen unterstützen. Digitale Transformation – das können auch eine Reihe kleiner Schritte sein und kein einschüchterndes Projekt, das nur von Digitalexpert:innen zu meistern ist.“
Die Teilnehmer:innen sind sich aber auch einig: Neben dem Faktor Mensch und der "German Digitalisierungsangst" besteht das Problem auch in alten, hierarchischen Strukturen. Um die digitale Transformation zu meistern, müssen Organisationen die Rahmenbedingungen für agile Pilotprojekte schaffen. Dazu gehört auch der Abbau von Hierarchien.
„In Deutschland werden die Hürden der Digitalisierung über- und ihre Chancen unterschätzen", schließt Frederik Reim. "Als Unternehmen können wir dazu beitragen, diese Chancen sichtbarer und zugänglicher zu machen.“
Über Faire.com
Faire ist der weltweit erste Online-Marktplatz, der ausschließlich unabhängige Einzelhändler und Marken zusammenbringt und so die Demokratisierung des Großhandels vorantreibt. Dank unkomplizierten finanziellen und logistischen Bedingungen, wie z. B. kostenlosen Rücksendungen und einem 60-Tage-Nettozahlungsziel, bietet das 2017 gegründete Unternehmen kleinen Händlern Konditionen, wie sie üblicherweise allein großen Handelsketten zur Verfügung stehen. Mit seinem datengesteuerten Ansatz begleitet Faire Händler bei der passgenauen Auswahl von Artikeln. Mit Faire profitieren Marken von leistungsstarken Vertriebs-, Marketing- und Analysetools, die ihr Geschäft vereinfachen. Kleine Unternehmen zu stärken ist eine Herzensangelegenheit von Faire. Alle Mitglieder des Gründer- und Vorstandsteams haben einen Einzelhandelshintergrund. Der Hauptsitz von Faire ist in San Francisco, USA. Mit seinen 19 internationalen Standorten verbindet Faire kleine Händler und Hersteller weltweit. Faire wird von Investoren wie Durable Capital Partners, Sequoia Capital, Forerunner Ventures, Founders Fund, Khosla Ventures, Lightspeed Venture Partners, Y Combinator, DST Global, Dragoneer, D1 Capital Partners, Norwest Venture Partners, Baillie Gifford und Wellington Management unterstützt.