Das Europäische Parlament hatte am 14. September 2017 den Bericht des zuständigen Berichterstatters Morten Løkkegaard (DK, ALDE) zum Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur „Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen“ angenommen. Nun hat der Rat der Arbeits- und Sozialminister nachgezogen und sich ebenfalls auf einen gemeinsamen Standpunkt geeinigt.
Die Ratsposition stellt sich wie folgt dar:
- Ausnahme für Kleinstunternehmen (Artikel 3 Absatz 4): Kleinstunternehmen (mit bis zu 9 Beschäftigten) sollen von der Richtlinie ausgenommen sein, um die Belastung sehr kleiner Unternehmen möglichst gering zu halten. Allerdings beträfe diese Ausnahme im Gegensatz zur Parlamentsposition nur Kleinstunternehmen aus dem Dienstleistungssektor (keine Produzenten). Dennoch wären damit ein großer Teil der (Online-)Händler in Deutschland (ca. 622.000 Kleinstunternehmen) von den Vorschriften nicht betroffen.
- Unverhältnismäßige Belastungen für Unternehmen (Artikel 12): Artikel 12 schützt Unternehmen auch weiterhin durch eine Ausnahmeregelung vor unverhältnismäßigen Belastungen – Unternehmen können sich also von den Barrierefreiheitsanforderungen ausnehmen. Die Mitgliedstaaten sollen nun allerdings von den Unternehmen eine Bewertung ihrer wirtschaftlichen Situation verlangen können und zwar bevor diese von der Ausnahme Gebrauch machen. Das Parlament hatte lediglich gefordert, dass die Bewertung und der Nachweis über die unverhältnismäßige Belastung erst im Nachhinein bzw. auf Verlangen der Behörden vorgelegt werden muss. Unternehmen, welche Dienstleistungen anbieten, müssen ihrer Bewertung alle fünf Jahre erneuern. Zudem werden in Anhang IV einige Benchmarks definiert, die bei der Bewertung einer mutmaßlich unverhältnismäßigen Belastung beachtet werden sollen, z.B. Kosten für Barrierefreiheit im Verhältnis zu den Gesamtproduktionskosten.
- CE-Kennzeichnung für Barrierefreiheit (Artikel 5 & 16a): Im Gegensatz zum Parlament hält der Rat daran fest, die Barrierefreiheitsvorschriften in Anlehnung an das sog. New Legislative Framework aus dem Produktsicherheitsrecht zu implementieren. Damit würde das Versehen eines Produktes mit dem bekannten CE-Kennzeichnung (das eigentlich für ein sicheres Produkt steht) nun auch an die Barrierefreiheit des Produktes geknüpft. Produkte, welche die Barrierefreiheitsanforderungen nicht erfüllen, auch umgehend zurückgerufen werden müssen ist unklar.
- Anwendungsbereich:
- Der Online-Handel ist nach wie vor im Anwendungsbereich enthalten (Art.1 Abs. 2f). Das bedeutet voraussichtlich z.B. dass Schriftgrößen und Kontraste anpassbar sein und Bilder beschrieben werden müssen. Die Ratsposition listet allerdings nur grundsätzliche funktionale Anforderungen auf (Annex ??) und keine spezifischen technische Vorgaben für Online-Shops. Die konkreten Details werden erst nach Verabschiedung der Richtlinie in einem Standard festgelegt.
- Nichtsdestotrotz wurde im Gesetzestext nun bereits aufgelistet, welche Bestandteile einer Webseite nicht barrierefrei gestaltet werden müssen (Art. 1 Abs. 6). Darunter fallen z.B. Inhalte, die von Drittparteien zur Verfügung gestellt werden (third party content) oder Archiv-Inhalte, die nach Inkrafttreten der Richtlinie nicht aktualisiert oder überarbeitet werden.
- Die Richtlinie soll nur für Dienstleistungen gelten, die auf die Nutzung durch Verbraucher ausgerichtet sind n(Art.1 Abs. 2). Das B2B-Geschäftsverhältnis ist hier also nicht betroffen.
- Nach einer Änderung sind nun auch stationäre Händler teilweise von der Richtlinie betroffen, da Zahlungsterminals explizit in den Anwendungsbereich aufgenommen wurden (Art. 1, Abs. 1b). D.h. sobald die Richtlinie umgesetzt und in Kraft getreten ist, müssen diese Terminals (ebenfalls auf Grundlage eines Standards) barrierefrei sein, was voraussichtlich zu Umrüstungen führen wird (sehen Sie dazu auch den nächsten Punkt).
- Zusätzliche Übergangszeit (Artikel 27a): Sechs Jahre nach Inkrafttreten der Richtlinie müssen Unternehmen die (zwischenzeitlich in nationales Recht umgesetzten) Bestimmungen befolgen. Es soll nun jedoch ein weiterer Übergangszeitraum geschaffen werden, in dem Dienstleistungserbringer ihre Dienstleistungen weiterhin unter Einsatz von Produkten erbringen können, die von ihnen bereits vorher eingesetzt wurden. Dieser Zeitraum soll weitere fünf Jahre betragen. Für Selbstbedienungsterminals (was auch Zahlungsterminals miteinschließt) soll sogar gelten, dass sie bis zum Ende der wirtschaftlichen Nutzungsdauer dieser Produkte (bzw. max. 20 Jahre) weiter genutzt werden können.
- Keine Anforderungen an die bauliche Umwelt: Während das Parlament den Anwendungsbereich für bestimmte Dienstleistungen (z.B. Transport, Telekommunikation, Banken, Tourismus und Gastgewerbe) von der reinen Dienstleistung auf die bauliche Umwelt erweitert hat, nimmt der Rat zur baulichen Umwelt keinerlei Vorschriften in seinen Standpunkt auf.
Hintergrund: Mit der Richtlinie sollen harmonisierte Barrierefreiheitsanforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen auf EU-Ebene festgelegt und nationale Maßnahmen auf dem Gebiet der Barrierefreiheit harmonisiert bzw. ggf. geschaffen werden. Die Kommission hält dies für erforderlich, um Hindernisse im grenzüberschreitenden Handel abzubauen bzw. zu vermeiden. Gleichzeitig soll so das Angebot an barrierefreien Produkten verbessert werden.
Die betroffenen Produkte und Dienstleistungen umfassen unter anderem:
- Computer,
- Telefone und Fernsehgeräte,
- E‑Books und den Online-Handel.
Bewertung: Wir konnten durch unser Lobbying an diesem Text einige Verbesserungen im Vergleich zum ursprünglichen Vorschlag der Kommission erreichen, insbesondere bei den Übergangsfristen und bzgl. der Ausnahme für Kleinstunternehmen. Da sich Rat und Parlament bei diesem Punkt einig sind, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Ausnahme auch im finalen Text enthalten sein wird, auch wenn die Kommission sie nicht unterstützt. Gerade bei Artikel 12 ist jedoch ein Rückschritt festzustellen, denn dieser ist in der Ratsversion zu kompliziert, bürokratisch und in der Praxis aufwändig umzusetzen. Das Parlament hat hier einen praktikableren Ansatz gewählt, für den wir uns einsetzen werden. Im Hinblick auf den Trilog werden wir zudem weiter versuchen, Erleichterungen für alle Unternehmen zu erreichen, z.B. durch eine (weitere) Verlängerung der Umsetzungs- und Übergangsfristen und durch weitere Klarstellungen bei den tatsächlich umzusetzenden Barrierefreiheitsanforderungen.
Da Barrierefreiheitsanforderungen für den E-Commerce in der ein oder anderen Form auf uns zukommen werden, ist es ratsam, dass sich Online-Händler bereits jetzt Gedanken machen, wie ihre Onlineshops barrierefrei gestaltet werden können, um die Zeit bis zum Inkrafttreten der Richtlinie effektiv zu nutzen.
Nächste Schritte: Rat und Parlament müssen sich gemeinsam auf einen Text einigen, um das Gesetzgebungsverfahren zum Abschluss zu bringen. Die Trilogverhandlungen zwischen Rat, Parlament und Kommission werden in Kürze beginnen und voraussichtlich im Frühjahr 2018 zum Abschluss kommen. Das Datum für die finale Abstimmung im EP-Plenum steht dementsprechend noch nicht fest. Auch sei zu erwähnen, dass zwar alle Mitgliedstaaten die allgemeine Ausrichtung mittragen, aber auch alle Staaten noch Prüfvorbehalte zu unterschiedlichen Punkten angemerkt haben.